Die Saiten des Körpers der Natur – Zum Werk von René Küng

Nicolaj van der Meulen

Orpheus (1957)
Waldharfe (1991)
Laute (1996)

Mund der Natur

Orpheus sanfter Gesang vermochte die wildesten Naturen milde zu stimmen. Ein Hirsch nähert sich dem Musensohn, doch unter den Händen des Sängers verwandelt sich das Geweih des Tieres in den Korpus einer Leier. Mit dieser ungewöhnlichen Bildfindung erzählt René Küng den Mythos von Orpheus neu. Die frühe Miniaturskulptur (1958) handelt von jenem glücklichen Moment, in dem sich die Natur unter den Händen des Künstlers zum Instrument und Resonanzraum herausbildete.
Musik durchzieht das OEuvre des Bildhauers in zahlreichen Varianten. Und nicht nur sein Werk, auch ihn selbst: «Die Saiten gehen durch meinen Körper. Sie verlaufen nicht längs, sondern schräg durch mich hindurch.» Die Metapher vom Künstler als Instrument illustriert die vielfältigen Übersetzungsvorgänge, die sich ereignen, wenn Natur und Alltagserfahrungen in eine entstehende Skulptur eingehen. In die 80er- und 90er-Jahre fällt die Serie der Cantos aus bemaltem oder rohem Holz, gefolgt von Harfen und Lauten aus Kalkstein und Granit. Es handelt sich hierbei um Werke, die nicht den Menschen zum Thema haben und doch für ihn geschaffen sind. Mehr als massive Instrumente wollen sie nicht nur gesehen, sondern auch gehört werden.
Bei allen Unterschieden, die beispielsweise die technische Behandlung des Materials betreffen, berühren sich Küngs «musikalische Skulpturen» mit verwandten Werken Cy Twomblys, etwa mit dem 1979 entstandenen Orpheus (Du unendliche Spur). Doch bringt der Vergleich auch sofort die Unterschiede ans Licht: Küngs «Instrumente» besitzen nicht nur eine ganz andere Materialbeschaffenheit, sie stehen auch im Wechselspiel mit der sie umgebenden Landschaft. Deshalb könnte man die vom Wind umspielten Steinharfen und Cantos als «visuelle Musik» bezeichnen. In den rhythmischen Stufungen und Wellenbewegungen der Cantos klingt der Rhythmus der Natur wider. Zwischen den steinernen Saiten der Harfen spielen die Elemente ihr Lied. Wer die Skulpturen umschreitet und aufmerksam hinblickt, vermag das Gesehene auch zu hören: Küngs musikalische Bildwerke lehren uns, die Natur zu hören. Das ins Erdreich sickernde Blut des sterbenden Orpheus brachte nicht nur die Natur zum Klingen, es brachte auch den Gesang und das musikalische Gehör zu den Menschen. Rilkes Sonette an Orpheus enden mit diesem Gedanken: «Nur weil dich reissend zuletzt die Feindschaft verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.»

Windschaf (1959)
Ziege (1958)
La Chèvre de Séguret (1999)

Eine Ziege am Anfang

Nach der Steinmetzlehre in Basel unternimmt der 1934 in Allschwil geborene René Küng ausgedehnte Reisen durch Frankreich und Spanien. 1957 mietet er für sechs Monate auf Ibiza ein altes Bauernhaus. Mit der Weltflucht eines Eremiten hat dieser Aufenthalt allerdings wenig zu tun. Vielmehr weist die erlebte Einheit von Mensch und Natur den Weg für eine besondere Form der künstlerischen Arbeit: Der Künstler nimmt den Dialog mit der Natur auf.
Hier, auf mediterranem Nährboden, erfolgen erste künstlerische Schritte. Neben Skizzen und Aquarellen wird der spontane Umgang mit Holz, Stein und Lehm erprobt. Die motivischen Quellen liegen zunächst bei der Beobachtung von Alltagsszenen, bei Handwerkern und Schiffsbauern während ihrer täglichen Arbeit. Eine benachbarte Bäuerin mit ihrer Ziege führt der tägliche Weg am Haus des jungen Künstlers vorbei. Die in dieser Zeit aus Lehm modellierte Ziege ist nicht mehr erhalten. Da die Anfänge einer Entwicklung, wie so oft, auch hier im Halbdunkeln liegen, kann jene verloren gegangene Ziege für den Beginn der bildhauerischen Tätigkeit von René Küng stehen. Der reife Bildhauer wird das Motiv der Ziege mit seitlich zurückgeworfenem Kopf immer wieder aufgreifen.
Die biografischen Hinweise verdeutlichen, dass seine Entscheidung für einen künstlerischen Lebensweg und die Wahl einer Lebensform auf dem Lande nicht von dem Themenkreis seines plastischen Werkes zu trennen sind. Die Beobachtung von Tieren gehört nun zur wichtigen Inspirationsquelle. Später, in den 80er-Jahren entstehen Köpfe, Glieder und Körper von Tieren aus Akazien, Tannenholz und Kalkstein. Neben Widder und Ziegen sind es vor allem die kleinen Kreaturen, die den Bildhauer beschäftigen. 1982 entstehen das Heupferd und der Waldvogel, ein Jahr später folgt die Mauereidechse, 1985 schliesslich eine Heuschrecke aus Kalkstein. Hiermit sind nur einige wenige Skulpturen aus jener Werkgruppe genannt. Was sie mit den übrigen verbindet, ist eine Materialwahl, die auf die Anatomie des Tieres reagiert: Natürlich gewachsene Hölzer und Äste verwandeln sich in die geblähte Brust eines Vogels, in die zittrigen Fühler einer Heuschrecke oder in die gespannte Wirbelsäule der Mauereidechse. Die Wahl des Naturmaterials verbindet die Tiere mit ihrem Lebensraum. Es scheint, als würden die Tiere den freien Raum atmen, der sie umgibt, ohne Gedanken an Zukünftiges oder Vergangenes. Der Charakter ihrer Bewegungen und Körperhaltungen versteht sich von selbst; er resultiert aus ihrer Lebensform. Daher demonstrieren Küngs Tiere eine Einheit mit der Natur, wie sie dem Menschen mit der Geburt verloren geht.
All dies wird ohne Sentimentalität geschildert. Im Gegensatz zu Franz Marcs Tierschicksalen (1913) oder Arnold Böcklins Kentaurenkampf (1872) handeln Küngs Tiere nicht parabelartig vom weltgeschichtlichen Scheitern des Menschen. Auch keine naturgeschichtlichen Prozesse werden exemplarisch vorgeführt, sondern Tiere im Zustand der Unmittelbarkeit. Küngs Tiere tun, was ihnen der Augenblick anträgt. Sie reflektieren die Haltung nicht, die sie einnehmen. Hieraus erklärt sich ihr Einssein mit der Natur.

Waldvogel (1982)
Heupferd (1982)
Mauereidechse (1983)
Grosse Mondleiter (1980)
Canto a più voci (1990)
Bateau jurassien (1978)
Unentschlossene Leiter (1991)
Mondleiter mit Stern (1985)
Steinharfe (1992)

Vielleicht …

René Küng zählt nicht zu den Künstlern, die ein neu geborenes Werk radikal von seinen Entstehungsbedingungen ablösen. Wer vor dem Basler Stadttheater spazieren geht und den Blick an den Sprossen der Mondleiter (1980) hinaufwandern lässt, verfolgt nicht nur die Richtung, nach der die Holzskulptur geht, sondern erfährt auch, woher sie kommt. Die Mondleiter zeigt ihre Herkunft. Damit ist nicht gemeint, dass Küngs Werke, sind sie einmal vollendet, kein Eigenleben besitzen würden. Im Gegenteil: Die emporwachsenden, feingliedrigen Äste können sich mühelos gegenüber den zwölf Jahre später aufgestellten, massiven, gekurvten Stahlplatten Richard Serras behaupten. Die Gründe hierfür liegen aber unter anderem darin, dass die Mondleiter an jeder Stelle zeigt, woraus und wie sie gemacht ist. Während Serras Intersection zwischen Raum und Betrachter undurchdringliche Platten schiebt, blickt man durch Küngs Mondleiter hindurch. Sie hält nicht nur den unendlichen Raum zwischen ihren ausgreifenden Sprossen transparent, sondern auch die Herkunft und Verarbeitung des Materials. Deshalb lohnt es, danach zu fragen, wie Küngs Werke entstehen.
Eine einfache Antwort wird man vom Künstler freilich nicht erwarten dürfen. Im Gespräch fällt ein umschreibendes «Vielleicht» – «Vielleicht hatte es zu tun mit …, aber ich erinnere mich nicht genau.» Mit künstlerischer Unentschiedenheit hat das nichts zu tun. Eher damit, dass sich die zahlreichen Aspekte, die das Werk hervorgebracht haben, nicht auf eine Formel reduzieren lassen. Erträumte Figuren, gesehene Landschaften und Ereignisse können zunächst vorsichtig im Kopf oder im Miniaturmodell erste Formen annehmen, um im Werk schliesslich ineinander zu fliessen. Überflüssig zu fragen, welcher Tropfen aus welchem Nebenfluss in den Strom gelangte. Gesehenes verbindet sich mit Vorstellungsbildern, eigene zurückliegende Ereignisse mit dem, was man das kulturelle Gedächtnis nennen könnte. Über Zeiten hinwegschreitend, verbinden Küngs Werke die Gegenwart mit vorausgegangenen Stationen der Kulturgeschichte und den Anfängen der Zivilisation.
Zu den kultivierten künstlerischen Verfahren von René Küng gehört, dass sich eine Skulptur schrittweise, auf dem Wege von inneren Arbeitsgängen, konkretisieren kann. Das Skizzieren erfolgt, wie auf einem imaginären Monitor, direkt in den blauen Himmel hinein oder gegen eine leere weisse Wand. Was hierbei nach und nach Gestalt annimmt, kann je derzeit gelöscht werden. Diese Arbeitsweise ist bemerkenswert, weil sie von vornherein den Raum als Ort der Skulpturen im Blick hat, ohne den Umweg über das Papier zu gehen. Veränderungen erfolgen nach einem inneren Korrektiv, das der Zweifel begleitet. Ein Zweifel allerdings, der zum Gelingen einer Skulptur hin zugehört und jederzeit davor schützt, dass das Werk zur erstarrten Formel gerät. Es ist gerichtet, ohne sich schon an eine sichtbare Richtung zu orientieren. Schliesslich entspringen der Vorstellungskraft dreidimensionale Gebilde, die skulpturale Formen mit Aspekten der Zeichnung verbinden. Daher könnte man den Ast, eine der plastischen Grundformen von René Küng, als eine körperliche Linie bezeichnen. Wie in Canto a più voci (1990), aus dem Kreise der in den 80er und 90erJahren entstandenen Raum und Himmelstreppen, der Leitern und Cantos, durchmessen solch körperliche Linien den freien Raum und bringen sich mit der Landschaftstopografie in Nachbarschaft.
Vielleicht beschreibt dieser unsichtbare Vorgang des Entwerfens aber nur die eine Seite der Werkgenese von René Küng. Holz, Stein und Bronze sind ihm nämlich mehr als anonyme Materialien, die sich einem fertigen Entwurf zu fügen hätten. Wie in Unentschlossene Leiter (1990) reagiert die Gestaltungsweise bereits auf die natürliche Gestalt vorgefundener Steine und Äste. Küng schliesst sozusagen an die organische Geschichte des Materials an, formt sie um oder erweitert sie. Daher geht die Arbeit des Künstlers Hand in Hand mit dem naturgegebenen Material. In anderen Fällen können Steine und Äste aber auch nach ihren statischen Möglichkeiten ausgereizt werden. Dünnste Holzformen erreichen hierbei grösstmögliche Höhe, massiver Granit verwandelt sich in schwerelose, feingliedrige Gefüge. Blickt man darauf, wie das hölzerne Bateau jurassien (1978) oder die Steinharfe aus Kalkstein (1992) «gemacht» sind, so erfährt man, dass künstlerische Technik für Küng mehr ist als Mittel zum Zweck. Die Verbindung der Äste durch Verbiegen oder Verzapfen des Materials, die feinen Schnitte in den Stein knüpfen an archaische Produktionsweisen an. Für René Küng ist jedes Werk auch die Lösung eines technischen Experiments, eine mögliche Antwort auf eine offene Frage.

Spatz am Fenster (1999)
Windfenster II (1998)
Torstein (1990)
Mondtor (1987)

Durchsicht

Die vielleicht merkwürdigste und umfangreichste Werkgruppe bilden die Fenster und Tore. Merkwürdig sind sie deshalb, weil sich in ihnen unmittelbar Gesehenes mit Bauskulpturen und Architekturgliedern vergangener Zeiten verbindet, ihre Bedeutung jedoch jenseits der Summe dieser Ausgangspunkte liegt. In den 80er-Jahren entsteht eine Fensterserie aus Holz, Kalkstein und Granit, begleitet von den Steintoren der Jahre 1985/86. Die Entwicklung gipfelt in Werken wie dem dreigliedrigen Steintor für das Bethesda-Spital Basel (1989), dem Torstein (1990), den Windfenstern (1997/98) und dem Spatz am Fenster (1999).
Fenster und Tore markieren Trennungen und Verbindungen zwischen Aussenund Innenräumen. Kulturgeschichtlich erklärt sich die künstlerische Ausgestaltung des Tores unter anderem daher, dass es denjenigen, denen es Zutritt gewährt, auf einen besonderen, manchmal geheiligten Ort vorbereitet. Küngs Torstein und Steintor stehen in einer Traditionslinie mit romanischen und gotischen Kirchenportalen wie Saint-Sernin (Toulouse), Saint-Lazare (Autun) und Saint-Pierre (Moissac), bis hin zu den Grabtempeln, etwa dem von Khazne el-Fara in Petra aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. In ihrer freien Raumstellung rufen Torstein und Steintor aber auch Erinnerungen an Triumphbögen der römischen Kaiserzeit wach. Allerdings unterscheiden sich Küngs Raumöffnungen von ihren Vorläuferinnen dadurch, dass sie von keiner Mauer gerahmt sind und auch nicht durchschritten werden können. Ihre Verbindung zwischen «hier» und «dort» ist vor allem visueller Natur.
So legt das Steintor im Park des Bethesda-Spitals gar nicht unbedingt den Wunsch nahe, den jenseitigen Raum durch Umschreiten des Tores zu erreichen. Der Blick führt in die Höhe, entlang des sich nach oben hin öffnenden Tores. Mit allen Anfängen von Kultur verbindet das Steintor eine vertikale Bewegung, ein Emporwachsen des Menschen. Dann aber ist dem Blick möglich, was zumindest dem ausgewachsenen Körper versagt bleibt: Durch den Stein hindurchzuwandern. Das Entscheidende spielt sich eigentlich nicht jenseits des Tores, sondern im Tor ab. Mit «durchsichtigen Öffnungen» scheinen mir Küngs Tore daher besser charakterisiert, als mit durchschreitbaren Grenzbereichen. Der Durchblick des massiven Steins lässt erfahren, wozu unser Auge im Stande ist, nämlich über unseren Körper hinauszuwachsen.
Damit sind seine «durchsichtigen» Tore von der traditionellen Funktionsweise eines Portals oder einer Tür teilweise entbunden. Sie öffnen Räume für andere Bedeutungen: Das jenseitige Heiligtum ist kein umschlossener Raum mehr, sondern die freie Natur, die hier wie dort liegt. Ihre Verbindung mit der Natur tritt aber bereits an der Skulptur zu Tage. Der halb bearbeitete, halb belassene Stein belegt die Fähigkeit des Menschen (und des Künstlers), die Natur zu verwandeln. Wie im Mondtor (1987) gehören Bogenabschluss und Mond, künstlerische Schöpfung und Universum zusammen.
Mit dem Blick durch das Fenster, hinaus in die Natur, sind Küngs Fenster aus Holz und Stein auf den ersten Blick dem romantischen Fenstermotiv verwandt, wie sie von Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge Anfang des 19. Jahrhunderts kultiviert wurden. Küng verbindet das traditionell der Malerei zugehörende Motiv mit Aspekten der Architektur. Gleichzeitig wird das Fenster aber aus seiner architektonischen Schale herausgelöst. Statt einer gemalten Figur stellt Küng ohne Umwege den Beschauer selbst vor das Fenster, ohne dass dieser je hinauszutreten vermöchte. Das romantische Sehnsuchtsmotiv vom Verlassen des dunklen Raumes und dem Ausziehen in die lichte Natur klingt eher als Nebenthema an. Vor allem scheinen die Windfenster Metaphern für jene Orte zu sein, an denen menschliche und natürliche Kräfte, «Ich und Welt» einander begegnen.
Mit bewundernswerter Sensibilität für die Potenziale, die im Material Stein verborgen liegen, spielt Küng mit dem Verhältnis von Materie und Gegenstand. In den beiden Windfenstern blähen sich steinerne Vorhänge. In gewissem Sinne arbeitet der Bildhauer hier gegen die Eigenschaften des Materials. Gilles Deleuze schrieb einmal: «Bei einer bestimmten Geschwindigkeit des Schiffes wird die Welle ebenso hart wie eine Mauer aus Marmor.» Im umgekehrten Sinne trifft dieser Gedanke auf die künstlerische Idee der steinernen Vorhänge zu: Der Stein steckt voller Möglichkeiten an Gestaltund Gewichtsmetamorphosen. Das Material ist vieldeutig. René Küng lässt die möglichen Kräfte des Windes sichtbar werden und verleiht dem massiven Material die Leichtigkeit eines transparenten Vorhanges.

Steinbuch (1992)

Bücher der Natur

Seit Mitte der 80er-Jahre entstehen aus Kalkstein bearbeitete, ringförmig gebundene Bücher, die in der Regel nicht viel mehr als drei, vier Seiten umfassen. Das grösste dieser Bücher ist das 1992 entstandene Steinbuch (270 x 340 x 450 cm) und erinnert an eine Gruppe hintereinander gestellter Fenster. Doch vor allem die kleinen Bücher – etwa das Blattskizzenbuch von 1985, das in seinen Massen acht Zentimeter nicht überschreitet – zeigen, dass bei Küng monumentale Werke mit kleinen Miniaturen durchaus zusammengehen. Kompakt fassen die Miniaturen zentrale Ideen des Künstlers zusammen.
Wie die Windfenster zeichnerische Qualitäten mit plastischen verbinden, so enthalten die «Bücher» gleichsam «skizzierte Skulpturen». Gewöhnlich knüpfen wir an den Stein als künstlerisches Material Vorstellungen von Festigkeit, Gültigkeit und Dauerhaftigkeit, während der Skizze etwas Vorläufiges und Flüchtiges innewohnt. Ihrem Charakter nach liegen Küngs steinerne Skizzenbücher genau zwischen den genannten Bereichen. Sie verbinden das Dauerhafte mit dem Flüchtigen und schlagen Brücken zwischen den Künsten. Gerade hier durch eignen sie sich dazu, das Organische und Lebendige im Stein zu bewahren. Aus den sehr feinen Durchbrüchen kristallisieren sich die Formen von Sternen, Blättern, Tor bögen und Landschaften heraus. Ihnen dient der offene Raum als Hintergrund.
Als der Geistliche Konrad von Megenburg um die Mitte des 14. Jahrhunderts das hundert Jahre ältere Liber de natura rerum des flämischen Dominikaners Thomas von Cantimpré ins Deutsche übertrug, mag man ähnlich staunend vor diesem Buch der Natur gestanden haben, wie rund 450 Jahre später vor den Skizzenbüchern René Küngs. Sie zeigen die Grenzen der Welt ebenso wie die Werke von Mensch und Natur. Die schöpferische Fantasie geht in die Werke ein und zeigt, wozu der Stein unter der Hand des Künstlers im Stande ist: den Menschen als einen Teil der wandlungsfähigen Natur sichtbar zu machen. Hans Christian Andersen sagte einmal: «Die Folianten vergilben, der Städte gelehrter Glanz erbleicht, aber das Buch der Natur erhält jedes Jahr eine neue Auflage.»

Nicolaj van der MeulenNicolaj van der MeulenNicolaj van der Meulen